KONTAKT

0176 21736266

ronzimmering@gmail.com

PRESSESTIMMEN

Das schräge Dorf - taz (18.12.2018)

 

Mit der Tragikomödie „Nähe“ gewann der Autor Mario Wurmitzer den Osnabrücker Dramatikerpreis. Nun kam das Stück in einer bewegenden Inszenierung auf die Bühne.

 

von Harfe-Peter Schönherr

 

 

 

 

Es dauert, bis der erste Satz fällt. Lisa sagt ihn, die Tochter, auf der Suche nach sich selbst: „Nur keine Leere aufkommen lassen!“ Ein Satz, der viel über sie verrät. Wer der knorrige Wanderer ist, der an uns vorübermarschiert, wieder und wieder, in Kniebundhosen-Alpenkluft, schwer bepackt, bis ihm der Atem fliegt, der Schweiß rinnt? Als Lisa „Leere“ sagt, wissen wir es noch nicht. Die verschrobene Alte mit ihrem Metalldetektor? Die Inlineskaterin, so blass wie eine Leiche? Der eitle Pilot mit seiner Sonnenbrille? Der Graubart mit seinem Holzbrett über der Schulter? Sie kommen, sie gehen; ein stetiger Strom. Für den Moment sind sie noch stumm. Nur Lisa redet. Aber das ändert sich.

„Nähe“, die Tragikomödie, mit der der junge österreichische Autor Mario Wurmitzer 2017 den „Osnabrücker Dramatikerpreis“ gewann, beginnt bizarr, skurril, absurd, symbolistisch. Der Pilot putzt sich im Gehen die Zähne. Der Wanderer ist plötzlich halbnackt. Die Skaterin humpelt auf Krücken herein. Der Graubart schiebt einen winzigen Kinderwagen, schlägt einen Nagel in die Wand.

Aber nicht lange, und es wird klar, was hier geschieht. Lisa, die Tochter, kehrt heim ins Dorf ihrer Kindheit, denn Heinz, ihr Vater, hat einen Schlaganfall. Heinz lebt in der Vergangenheit, in der Erinnerung an seine Revolten als Künstler, an seine verstorbene Frau. Lisa hat gerade eine Trennung hinter sich, sehnt sich nach einem Sinn für ihr Dasein.

Viel zu sagen haben sie einander nicht. Beide stehen an einem Wendepunkt, bewegungslos. Was sie denken und empfinden, ist wie eingefroren. Selbst die Besucher aus Lisas früherem Leben brechen diese Starre nicht auf. Da ist die „Freundin, die schon tot ist“, die vom Jenseits erzählt, während sie Lisa auf Inlinern umkurvt. Da ist Lisas Ex-Freund, der Pilot, der nicht wahrhaben will, dass es aus ist. Und da ist der Wanderer, Lisas egomanischer Therapeut, der, als sein magerer Floskel-Vorrat an Psycho-Sprech nicht mehr verfängt, wieder in die Berge verschwindet.

Ein seltsames Panoptikum tut sich auf: Da ist der Bürgermeister des Dorfs, der es nicht erträgt, dass er seine Bürger an die Stadt verliert. Da ist der „Mann, der sich zweimal in denselben Abgrund stürzte“, ein wahnverwirrt „Heimat!“ und „Freiheit!“ knorzender Stahlhelmträger in Unterhosen, der verzweifelt, weil er keine Feinde findet. Da ist ein Musikverein in Lederhosen, Gamsbarthüten und Trachtenjankern, der Geld für ein Brauchtum sammelt, das niemanden mehr interessiert.

Wer sich „Nähe“ ansieht, sollte etwas Lust auf Dechiffrierung mitbringen. Warum beispielsweise die tote Inlinerin mit einem herzchenrot glitzernden Jo-Jo spielt? Warum Lisa, der sie das Jo-Jo am Ende schenkt, zu wummerndem Techno Springseil springt? So ist das Leben, signalisiert uns das: immer rauf und runter, immer im Kreis. Heinz serviert eine Plastikkarotte, von der niemand satt wird? Herbstblätter stieben – und werden gleich darauf wieder zusammengefegt? Der Pilot, der zwischendrin die Handlung durch Songs kommentiert, trägt plötzlich ein Diva-Schillerkleid mit Pelzbesatz? Die Bühne ist nackt und schwarz, und wer einen Tisch braucht, einen Kopfhörer, eine Tasse, bringt sie selber mit? Sinnbilder, Chiffren.

Auch die Sprache nimmt sich da nicht aus. Je länger Lisa bei Heinz bleibt, desto fragmentierter wird sie. „Es ist ja nichts mehr wie …“ Pause, Stockung, Unausgesprochenheit. Kommunikation, die ans Verstummen grenzt.

Bewegende Monologe

Das hat Biss, und das hat Sensibilität. Das hat Brüche zwischen Ernst und Komödiantik. Schnoddrigkeiten, bei denen Lachen aufbrandet, stehen neben Härten wie „Manchmal erliegt man!“. Ohnmacht allerorten. Der tiefste aller Schrecken: Sich selbst ausgeliefert zu sein.

Besonders bewegend sind die Monologe. Der von Heinz etwa, der sich fragt, wie er sie überwinden kann, die „Schlucht zu den anderen“. Ronald Funke ist als Heinz beklemmend stark. Ebenso stark wie Denise Matthey als Lisa. Ebenso stark wie Dietmar Pröll als Therapeut und Krieger. Wie Hannah Walther als Tote. Alle sind hier stark. Spielfreudig und konzentriert, leidenschaftlich und präzise. Sparsame, klar gesetzte Mimik und Gestik. Jeder Gedanke wirkt, als stamme er nicht nur aus dem Textbuch.

Eine Regieleistung, durch die sich Ron Zimmering für weitere Inszenierungen empfiehlt. Mit Kostümbildner Benjamin Burgunder und Bühnenbildnerin Ute Radler bildet er in „Nähe“ ein ebenso inspiriertes Team wie in „Bandscheibenvorfall“ – in der vergangenen Spielzeit eine der besten Inszenierungen. Dort wie hier: bildhafte Seelenzustände.

Stadt, Land, Frau - Süddeutsche Zeitung (28.12.2018)

 

Subtile Körperkomik und eine überraschend rührende Version eines Tom-Waits-Songs: Das Theater Osnabrück überzeugt mit "Nähe" von Mario Wurmitzer.

 

Von Alexander Menden

 

 

 

 

"Wenn man schon wo zur Ruhe kommt, dann darf es dort zumindest nicht zu still sein", meint Lisa, "sonst werde ich von all der Ruhe zerquetscht. Und die Stille hier im Dorf kann schon bedrohlich werden." Doch jetzt ist sie zurück im Dorf, weil es ihren Vater Heinz beim Schrebergärtnern schlaganfallhalber in die Zucchini gehauen hat. Eingezwängt in ein zu enges blaues Kostüm, das wie ein Abbild der eigenen Beklemmungen wirkt, stöckelt die Powerfrau in ihre alte Heimat.

Die Rückkehr der Stadtfrau in den ländlichen Geburtsort ist ja mittlerweile ein eigenständiger Topos; mit Filmen wie "Sweet Home Alabama" und "Young Adult" hat vor allem das amerikanische Kino diese Sparte bedient. Es ist eine potenziell spannungsreiche Ausgangslage, die der österreichische Dramatiker Mario Wurmitzer nun als Ausgangspunkt seines Stücks "Nähe" gewählt hat. Es brachte ihm 2017 den Osnabrücker Dramatikerpreis ein (eine Auszeichnung die unter anderem Wurmitzers Landsmann Thomas Köck als Sprungbrett diente), und wurde nun von Ron Zimmering in Osnabrück uraufgeführt.

In Ute Radlers minimalistischer Bühneneinrichtung ist das Dorf ein lang gestreckter schwarzer Raum, leer bis auf einen Tisch und ein paar Stühle, wo die Geister der Vergangenheit Lisa erwarten. Dazu gehört nicht nur der verwitwete Vater Heinz, ein Künstler und Alt-Achtundsechziger, der vereinsamt und verwirrt Trost im Internet und bei der Paketfrau sucht, sondern auch verstorbene Weggefährten wie Anna (beide gespielt von Hannah Walther, die als tote Busenfreundin waghalsige Rollschuhmanöver hinlegt).

"Nähe" ist eine Abfolge von Begegnungen, die vor allem die Distanz zwischen den Menschen belegen. Lisas Vater kämpft nicht nur mit seiner Isolation, sondern auch mit der Unfähigkeit, den ersten Schritt zu ihrer Überwindung zu machen. Ronald Funke verleiht dieser in braunen Sandalen umherschlappenden Figur subtiles Pathos und eine grimmige Komik. Alle Gestalten in "Nähe" schwanken mehr oder weniger zwischen diesen Polen - sei es Denise Mattheys Lisa, die überfordert in passiv-aggressiver Abwehrhaltung verharrt, sei es ihr Pilotenfreund, der bei der Trennung darauf hinweist, dass er in der Wohnung bleiben werde - die gehöre schließlich ihm.

Dass das Ganze am Ende dann doch noch zu einer Öffnung und vielleicht sogar zu der im Titel verheißenen Nähe führt, ist ein Kunstgriff, aber ein tröstlicher. Zimmerings Inszenierung ist textdienlich, was in erster Linie bedeutet, dass die Produktion sich nicht in den Vordergrund drängt. Mick Riesbeck darf als Piloten-Ex-Freund ein paar Lieder singen (darunter eine überraschend rührende Version von Tom Waits' "Innocent when you dream"), und es gibt ab und zu ein bisschen subtile Körperkomik.

Wurmitzer selbst hat ein paar Sprachkünsteleien im Programm, die er sich noch abgewöhnen sollte. Seine ständigen Ellipsen etwa ("Der Musikverein ist nicht mehr das . . . alles ist nicht mehr das . . . was es einmal . . .") sollen fragmentiertes Denken und Kommunikationszusammenbruch signalisieren, wirken aber vor allem manieriert und führen besonders bei den jüngeren Mitgliedern des solide agierenden Ensembles zu unnötig hölzerner Rhetorik. Inhaltlich aber liefert der 26-Jährige eine erfreulich kohärente und in ein durchaus überzeugend optimistisches Ende mündende Erzählung. Es wäre weder überraschend noch unverdient, wenn seine Arbeiten bald an einem größeren Haus inszeniert würden.

"Wiederbelebung einer antiken Idee" - Theater der Zeit (21.08.2018)

 

Am Hamburger Lichthof Theater formt sich mit „Staging Democracy“ ein Bürgertheaterprojekt zu einem demokratischen Bühnenexperiment

 

von Natalie Fingerhut

 

 

 

  

 

„Bürger an die Macht!“, „Lügenpresse, auf die Fresse!“ – 21 Darsteller in Weiß skandieren die gängigsten Demo-Sprechchöre einer politikverdrossenen Zeit. Sie sind Teil von „Staging Democracy“, einem Bürgertheaterprojekt des Hamburger Lichthof Theaters. Der Abend ist das Ergebnis eines einjährigen Experiments zum Thema Demokratie, initiiert von der Autorin und künstlerischen Leiterin Dagrun Hintze.

Inspiriert hatte sie das Buch „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ von David Van Reybrouck. Als Alternative zur in die Krise geratenen Demokratie der Wahlen nimmt der belgische Historiker darin die aleatorische Demokratie unter die Lupe, in der das Los entscheidet, wer im Parlament sitzt. Ein Verfahren, das schon im antiken Athen praktiziert wurde. „Am Morgen der Trump-Wahl war ich in Dresden“, erzählt Hintze. „Weil ich Angst hatte, auf die Straße zu gehen und auf feiernde Menschen zu treffen, dachte ich mir: Ich muss jetzt sofort was machen. Und da ich viel mit partizipativem Theater beziehungsweise Theater zu politischen Themen beschäftigt bin, kam ich auf die Idee, mit den Mitteln dieser Form von Theater die Demokratie selbst in den Blick zu nehmen.“

Und so wurde interessierten Hamburgern ein politisches Fachgebiet zugelost, in das sie sich selbstständig einarbeiteten und daraufhin in fünf Factorys zu Themen wie „Wirtschaft und Finanzen“ oder „Verkehr, Stadtentwicklung und Wohnen“ diskutierten. Die Ergebnisse präsentierten Sprecher der Factorys in einer „Demokratischen Sprechstunde“ Politikern der Hamburger Bürgerschaft, die dazu Stellung nahmen und diskutierten. „Ich fand es wirklich schwierig, mit den Energien umzugehen, die dort aufkamen“, erzählt Hintze. „Gemessen daran, dass die Hamburger Bürgerschaft ein Feierabendparlament ist und diese Menschen für eine geringe Aufwandsentschädigung zwanzig Stunden pro Woche und mehr diesen Job machen, halte ich eine solche Aggression ihnen gegenüber für komplett absurd.“

Erfahrungen wie diese, aber auch eigene Texte oder Zitate von Herodot und Expertenwissen aus Interviews flossen in das am Ende dieses einjährigen Prozesses entstandene Stück mit ein. Befragt wurden unter anderem Kaja Harter-Uibopuu, Historikerin für Alte Geschichte und Expertin für das Losverfahren der aleatorischen Demokratie, sowie ein Schöffe – ist die ehrenamtliche Richterposition doch das einzige Amt der heutigen Zeit, zu dem man per Los ernannt wird.

Regisseur Ron Zimmering, der bereits am Schauspielhaus Hamburg und am Landestheater Detmold mit Laien gearbeitet hat, wählte für die Umsetzung die Form der Collage. „Es gibt chorische Elemente mit Dagruns Texten“, berichtet er von den Proben. „Dazu kommen partizipatorische Elemente, an denen das Publikum beteiligt ist, und biografische Passagen vom Bürgerchor. Ergänzt werden diese Teilaspekte durch die ‚Alltagsexperten‘, also Menschen, die etwas aus ihrer Expertise heraus erzählen.“

Lichthof-Leiter Matthias Schulze-Kraft war von der Idee leicht zu überzeugen, als Hintze ihm ihr Konzept vorstellte. Sie waren zuvor schon über eine Form des Bürgertheaters im Gespräch gewesen und bei Hintzes Konzept zu „Staging Democracy“ überzeugt, damit den idealen Inhalt dafür gefunden zu haben. Und das Experiment geht auf. In siebzig Minuten erlebt das Publikum, das an drei Seiten der Spielfläche sitzt, einen Parforceritt durch politische Systeme, stimmt immer wieder zum Fortgang des Abends ab und wird – dem Konzept gemäß – auch teilweise auf die Bühne gelost.

Das alles hat nicht nur einen hohen politischen Anspruch, es ist dabei auch unterhaltsam und exzellent gearbeitet. So darf die Göttin der Demokratie persönlich das Wahl- im Vergleich zum Losverfahren erklären. Die Zuschauer üben mit grünen und roten Karten das Prinzip der Abstimmung zu Fragen wie „Sind Sie in einer Partei?“, „Finden Sie, man sollte Demenzkranken das Wahlrecht entziehen?“ oder „Sind Sie schon mal fremdgegangen?“. Wenn die Darsteller sich in drei Gruppen aufteilen und damit die Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie verkörpern, werden politische Grundsätze deutlich: Vor gesellschaftliche Alltagsprobleme gestellt, mag die schnelle Entscheidung des Alleinherrschers am effizientesten sein, die Legitimation des Publikums beziehungsweise Volkes bekommt sie dadurch noch lange nicht.

Die Entscheidung, mit Marc Aisenbrey von der Hochschule für Musik und Theater einen Profi für die Chorpassagen zu engagieren, zahlt sich aus. Klar, rhythmisch und exzellent gearbeitet, kommen so die starken Texte von Hintze ebenso zur Geltung wie eine Passage von Herodot oder gebrüllte Parolen. Die persönlichen Erfahrungsberichte der Darsteller belässt Zimmering im Erzählton, ohne inszenatorisch stark einzugreifen. So behalten die Laien ihren natürlichen Sprachduktus und bleiben authentisch. Am Ende verbeugen sich die erhitzten Darsteller vor einem euphorischen Publikum, das unter den Sitzen gleich noch eine Anleitung für künftige gesellschaftliche Beteiligung vorfindet.

„Staging Democracy“ ist ein Experiment, das sich lohnt und ganz im Sinne des Lichthof Theaters steht, das längst eine Institution in der freien Szene Hamburgs ist. 2017 wurde dieses Engagement mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Ausgewählt wurden „Bühnen, die auf ihre je eigene Art ,Welttheater‘ sind, die ungewöhnliche Kooperationen eingehen, mit Mut, Witz, aber auch Risiko spielen und so ihre Stadtgesellschaften mitprägen“, so Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Das Engagement des Lichthofs überzeugte ebenso wie beispielsweise das Programm der Berliner Sophiensaele. In der Jurybegründung wurde der Mut zum Experiment hervorgehoben, die Grenzüberschreitung zwischen den Sparten und die Nachwuchsförderung. Bleibt zu hoffen, dass ein Ort wie dieser weiterhin gefördert wird, um der Hamburger freien Szene einen ganz eigenen Denkund Spielraum zu bieten. 

Aufputschmittel für Demokratiemüde - taz (22.06.2018)

 

Ein Jahr lang haben Hamburger Bürger*innen im Lichthof-Theater über Grundfragen der Demokratie und Zeitthemen diskutiert. In „Staging Democracy“ bringen sie nun gemeinsam die Ergebnisse auf die Bühne

 

von Katrin Ullmann

 

 

 

„Sind Sie Mitglied einer Partei? Gehen Sie wählen? Umarmen Sie manchmal Bäume?“ Mit roten oder grünen Karteikarten soll das Publikum diese Fragen beantworten und erst mal ein Meinungsbild liefern. Schließlich bedeute Demokratie ja Beteiligung, Mitbestimmung, so wird es am Anfang von „Staging Democracy“ im Hamburger Lichthof-Theater erklärt. Bis es nach einer scheinbar endlosen Reihe von Fragen schließlich heißt: „Sind Sie das ständige Abstimmen nicht langsam leid?“

Ergebnis eines einjährigen Experiments ist der Abend, entwickelt von 22 Hamburger Bürger*innen, geschrieben von Dagrun Hintze und auf die Bühne gebracht von Ron Zimmering. Interessierte konnten sich einem von fünf Themenbereichen zulosen lassen, sich dann in Arbeitsgruppen dazu informieren und diskutieren: Eine Bürger*innenversammlung en miniature. Aus ihren Gedanken und nach und nach erarbeiteten Expertisen haben die Beteiligten schließlich Forderungskataloge an Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete erstellt, haben sich mit ihnen getroffen und über die Themen der Stadt diskutiert.

Volkes Stimme: In diesem Format wird sie wörtlich und ernst genommen, bekommt Raum und im zweiten Schritt eine Bühne. Man denkt an die „Bürgerchöre“ von Volker Lösch oder die „Experten des Alltags“, die die Performancegruppe Rimini Protokoll immer wieder in den Fokus rückt. Aus Bürgerprojekten Theater machen, das Bekenntnis zur künstlerischen Kraft der Laien, liegt im Trend. Die Idee ist ja auch charmant: Die Laiendarsteller*innen verhandeln Themen, die sie selbst ganz direkt betreffen.

An diesem Abend ist es also die Demokratie – Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung und allgemeines Unbehagen inklusive. Man erfährt, dass mehr als 100 von 195 Staaten der Erde diese Regierungsform – zumindest auf dem Papier – vertreten. Man lernt, dass Staatsämter im antiken Griechenland per Los zugewiesen wurden, sieht die Unterschiede zwischen Aristokratie, Monarchie und Demokratie. Und man hört vom US-Gründervater Thomas Jefferson, vom Staatsphilosophen Edmund Burke und vom Referendum in Irland, das jüngst für eine Aufhebung des strikten Abtreibungsverbots stimmte und damit eine neue Gesetzesregelung anstieß.

Ganz in Weiß gekleidet erzählen die 22 Darsteller*innen mal von ihren eigenen Erfahrungen, mal befragen sie – per Losverfahren ausgewählte Zuschauer*innen. Mal sprechen sie im Chor, mal werden sie zu Stammtischmotzern, mal zur Stimme der Vernunft. Dabei stellen sie einen Querschnitt der Gesellschaft dar: alt und jung, Frau und Mann, wütend und enttäuscht, motiviert und frustriert.

Regisseur Zimmering lässt sie durch den Raum schreiten, sich ausweichen oder zur Gruppe vereinen – spielerisch, anschaulich, nie plump. Später bauen die Darsteller*innen einen runden Tisch zusammen (Bühne: Ute Radler). Stefan M. sitzt darauf und erzählt. Er war als Schöffe tätig: Ein Amt, das heute noch per Losverfahren vergeben wird – so schließt sich ein Kreis zurück ins alte Athen.

Text und Inszenierung sind unterhaltsam, klug und aufschlussreich. Möglichkeiten stehen im Fokus dieses Abends. Erst am Schluss, wenn jede*r der Zuschauer*innen eine „Aufgabe für die Gemeinschaft“ gewinnen kann, winkt die Moral. Unter jedem Stuhl klebt dann eine Aufforderung: „Übernehmen Sie Verantwortung für eine Gruppe von Menschen, die Sie nicht kennen“. Oder: „Beschäftigen Sie sich mindestens 30 Minuten mit einem lokalpolitischen Thema, das sie überhaupt nicht interessiert“.

Am Schluss also, da huscht dann doch kurz ein Zeigefinger durch den Raum. Schade, man könnte einfach sagen: Gehen Sie ins Theater. Es war – zumindest im alten Griechenland – ein Ort, an dem man zusammenfand, um über Demokratie und Politik zu diskutieren. Das Lichthof-Theater ist es derzeit auch.

"König Lear ist ein Fall von Demenz" - taz 2012

 

Demenz gehört nicht nur in die Kliniken und in die Familien der Betroffenen, sagt der Schauspieler Ron Zimmering. Darum schreibt er nun eine auf Demenz fokussierte Fassung von Shakespeares Stück „König Lear“

 

Interview Katharina Gipp

 

 

 

Herr Zimmering, was hat das Theater anderen Darstellungsformen voraus, wenn es um das Thema Demenz geht?

Ron Zimmering: Das Unmittelbare zwischen Schauspieler und Zuschauer. In Bezug auf Demenz ist es wichtig, dass man das Alter leibhaftig auf die Bühne bringt, dass man Menschen mit ihren Ängsten, Gefühlen und Erinnerungen konfrontiert und so zu einem Dialog beiträgt.

 

Filme über Demenz sind oft schwermütig. Soll Ihr Theaterstück anders werden?

Klar ist Demenz ein Betroffenheitsthema. Der Gedanke, was passiert, wenn ich mich auflöse, mich an bestimmte Dinge nicht mehr erinnern kann, macht Angst. Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil“ hat mich bei meiner Arbeit sehr inspiriert. Er beschreibt seinen Vater und auch die Krankheit, aber es ist kein Betroffenheitsbuch, sondern setzt sich mit grundlegenden Fragen des Menschseins auseinander. Ich wünsche mir für die Umsetzung meines Theaterstücks eine spielerische Herangehensweise, in der man Grundfragen des Lebens anspricht und sich mit bestimmten Prozessen aussöhnt.

 

Haben Sie eine bestimmte Zuschauergruppe im Blick?

Ich finde, Demenz ist ein Thema, das nicht nur ältere Generationen was angeht. Das Thema wirft grundlegende Fragen des Menschseins und der Identität auf. Deswegen wünsche ich mir, dass es ein Stück wird, das auch jüngere Menschen anspricht. Ich habe eine Konzeption für das Hamburger „Haus im Park“ ausgearbeitet.

 

Sie sind erst 28. Was ist Ihr persönlicher Anknüpfungspunkt?

Meine Großmutter hatte Demenz. Ich habe sie über zehn Jahre begleitet und den ganzen Krankheitsverlauf mitbekommen. Und meine andere Großmutter väterlicherseits hat jetzt auch schon die ersten Symptome von Demenz. Deswegen hatte ich ein großes Bedürfnis, das Ganze künstlerisch aufzuarbeiten.

 

Ist auch ein optimistischer oder positiver Blick auf Demenz möglich?

Man kann nicht von etwas Positivem sprechen. Es ist ein Prozess wie der Tod, der Ängste auslöst und für viele unangenehm ist. Aber wenn man Ängste ins Auge fasst und genau hinguckt, dann ist die Angst nicht mehr unbestimmt und der Blick klärt sich. Auch in Hinblick auf meine eigene Großmutter versuche ich, eine nicht ganz so pessimistische Perspektive einzunehmen. Meine Großmutter ist 94 Jahre alt geworden und sie war immer eine sehr wichtige Konstante in meinem Leben.

 

Sie wollen Shakespeares „König Lear“ bearbeiten und in ihm die Demenz stärker in den Vordergrund rücken. Wieso gerade dieses Stück?

 In Saarbrücken habe ich an einer Inszenierung von „König Lear“ mitgewirkt. Damals dachte ich: Dieser König Lear ist doch dement! Er hat mich einfach tierisch an meine Großmutter erinnert. Er ist manchmal wie ein Kindskopf und dann ist da dieses Unberechenbare, diese totale Wut. Man kann die Geschichte natürlich so erzählen, dass es da diesen armen König und seine bösen Töchter gibt, aber ich konnte mich auch sehr gut mit den Töchtern identifizieren, weil ich weiß, wie schwierig es ist, mit jemandem zusammen zu sein, der den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Diese unterschiedlichen Sichten auf die Krankheit haben mich inspiriert. Ich möchte Demenz jedoch nicht als alleinigen Aufhänger nehmen, sondern Erfahrungsberichte mit einbinden. Die Geschichte bleibt fragmentarisch erhalten und parallel dazu werden authentische Texte von Demenzkranken und Angehörigen vorgetragen.

 

Werden Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit einbringen?

 Ich habe Tagebucheintragungen von meiner Großmutter, in denen sie ihre eigenen Ängste beschreibt. Wir hatten sie gebeten, alles zu notieren, bevor sie es vergisst. Das hat sie versucht, es aber aufgrund der Demenz nach und nach nicht mehr hingekriegt. In einem Satz schreibt sie, wie ihre Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, und im nächsten Satz, dass es gesund ist, Obst zu essen. Es ist so tragisch, wenn sich eine ganze Biografie auflöst. Und da ergibt sich für mich die Frage: Was macht den Menschen zum Menschen? Wenn sich Sprache und Erinnerungen auflösen, ist das dann überhaupt noch der Mensch, den man kennt? Was bleibt da übrig?